Ich erreiche Frankfurt an der Oder bei untergehender Sonne. Neuberesinchen begrüßt mich mit wunderbarem, winterlichen Abendlicht. Ich halte auf dem Parkdeck vom E-center Frankfurt/Oder. Ein herrlicher Blick über die Plattenbauten auf dem Aurorahügel. Ein alter Mann mit kleinem Hund geht zwischen den Hochhäusern hindurch. An der Laterne stehen zwei junge Mädchen und rauchen. Auf dem Parkdeck wimmelt es von Leuten die ihren Einkauf für die anstehende Woche erledigen. Langsam wird es dunkel und ich packe meine Sachen wieder zusammen. Ich habe noch drei Stunden Zeit, bis ich verabredet bin. Ich beschließe mich in einem Café in der Innenstadt von Frankfurt aufzuwärmen. Leider vergeblich. Die Innenstadt verläuft fast direkt neben der Oder. Aber hier ist es trostlos, ganz anders als beim E-center. Vielleicht liegt das aber auch an der Uhrzeit und der eisigen Kälte. Ich parke das Auto schließlich in der Nähe vom Grenzübergang. Ertappe mich dabei, wie ich doppelt kontrolliere, ob das Auto auch wirklich abgeschlossen ist. Beschließe mich zu bessern.
Dann folgt er: mein erster Grenzübertritt über die Oder. Obwohl ich seit meinem ersten bewussten Grenzübertritt diverse Grenzüberschreitungen getan habe – mitten in der Nacht an der türkisch-bulgarischen Grenze und schlaftrunken aus dem Nachtbus stolpernd in Horden von streunenden Hunden und mürrischen Grenzbeamten; tagsüber aufgestellt in Zweierreihen und beschnüffelt von Drogenspürhunden an der Fähre von Dover nach Calais; am Flughafen in Kinshasa im Hinterzimmer von dubiosen Polizisten; mit Beamten der United States Customs and Border Protection die einen genervt weiter winken, weil ihr Fingerabdruckscanner nicht funktioniert; durch Taschenlampenlicht in der zweiten Etage vom Nachtzug aus dem Schlaf gerissen und mit rumänischen Worten unfreundlich nach dem Pass gefragt; oder unbemerkt im RE13 von Düsseldorf nach Venlo zum gemütlichen Sonntagsausflug – ist dieser anders. Ich kann es da noch nicht in Worte fassen.
Nach 251,75 Metern verlasse ich die Brücke wieder. Begrüßt werde ich dieses Mal von Billigen Zigarretten und Viel Billigeren. Ich werde außerdem darauf aufmerksam gemacht, dass man in Polen mit Złoty bezahlt. Anders als in Frankfurt – „Leider, leider nein!“ – ist hier aber auch der Euro gerne gesehen. Die zweite Überquerung mache ich wenige Stunden später. Wir gehen auf ein Bier nach Słubice. „Weil hier in Frankfurt jetzt eh nichts mehr geht.“ In der Bar auf polnischer Seite tanzen die Leute zwar auch nicht grade auf den Tischen, aber einige Leute sind da. Man bestellt auf polnisch, bedankt sich auf polnisch und verabschiedet sich auf polnisch. Das Bier wird genauso wie in Deutschland getrunken. Nach zehn Minuten Fußweg haben wir die Brücke wieder verlassen. Fünf weitere Minuten trennen mich noch von meiner Couch. Ich bin fasziniert.
Seit nunmehr tausend Jahren besteht die Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen. Die historischen Ereignisse beschäftigen und prägen das Verhältnis beider Länder bis heute und es gibt kaum einen Grenzverlauf, der mehr Spannungen in der europäischen Geschichte aufweist als der hier zu behandelnde.
»Wie äußert sich das Fehlen der harten, politischen Trennlinie, die heute so einfach überschritten werden kann? Verschwimmen die Grenzen auch in den Köpfen der Menschen?« Constantin Ranke
Mit dem Beitritt Polens zum Schengen-Abkommen fielen 2007 auch die Grenzkontrollen weg. Die Hoffnung auf Entgrenzung und kulturellen Austausch außerhalb einer politisch-institutionellen Ebene wurden damit erhöht. Mehr als zehn Jahre danach werden die zwischengrenzlichen Beziehungen immer noch von Barrieren geprägt. Sowohl sprachliche wie auch kulturelle Unterschiede, Vorurteile und ökonomische Unterschiede beeinflussen die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen in der Grenzregion. Zudem kamen Ängste auf, dass billige polnische Arbeitskräfte den ohnehin schon strukturschwachen Osten Deutschlands weiter schwächen würden und reiche Deutsche den traditionell landwirtschaftlich starken Polen das benötigte, aber günstige Land abkaufen könnten. Also wurden Übergangsregelungen gefunden. Aber beide Seiten profitieren auch von der Grenzlage.
Constantin Ranke entschied sich nach einigen Versuchen, mit einer analogen Großformatkamera zu arbeiten. Diese Fachkamera wird auf einer optischen Bank in modularer Bauweise montiert und kommt typischerweise, aufgrund ihrer aufwändigen und zeitintensiven Handhabung, eher in Fotostudios zum Einsatz. Die Technik der analogen Großformatkamera bestimmt die Bildsprache, die von atmosphärischen und statischen Situationen geprägt ist.
Die Arbeit begreift sich als Bestandsaufnahme danach. Was hat sich seitdem verändert? Wie äußert sich das Fehlen der harten, politischen Trennlinie, die heute so einfach überschritten werden kann? Verschwimmen die Grenzen auch in den Köpfen der Menschen? Welche Artefakte der Grenze gibt es noch und wenn sie in ihrer baulichen Form verschwunden sind, inwiefern äußert sich der Umstand dieser ehemaligen Grenzziehung noch? Oder steht vielmehr die Oder, als natürliche Grenze, für das, was einmal Grenzposten war? Äußert sich der Umstand gar nicht mehr und die Grenze löst sich durch die fotografische Betrachtung auf?
Constantin Ranke
und oder
Abschlussarbeit
Hochschule Düsseldorf
Fachbereich Design
betreut von Prof.in Mareike Foecking und
Prof.in Dr.in Yvonne P. Doderer
Weiterführende Links
http://www.constantinranke.de/
Beitrag von Yohanan Khodr