Soziokulturelle Praxis in Beirut

killon y3ani killon. Alle heißt alle, lautet der aktuelle Protestruf der Demonstrationen im Libanon. Nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt war, hörte ich im Oktober von meinen Freunden, wie die Menschen begannen auf den Straßen für ihre Rechte zu kämpfen. Tankstellen und Banken, Schulen und Universitäten wurden geschlossen und die Straßen von tausenden Menschen blockiert. Die andauernden Proteste richten sich gegen das autoritäre System, Konfessionalismus und Korruption. Die Revolution und nicht-sektiererische Proteste präsentieren soziale Bewegungen im Libanon. Und obwohl der politische Wandel ungewiss ist, ist es eine Revolution der Einheit durch den transkulturelle Praktiken zu einer besseren Zukunft führen.

Encounters of socio-cultural Practices in Beirut:
Designing Prototypes and Spaces of Communication

In meiner Arbeit dient Design als Tool visueller Übersetzungen von Begegnungen soziokultureller Praktiken in Beirut. Die Hauptstadt des Libanons, ist geprägt von einer Reihe komplexer Identitäten, die schon seit Jahrhunderten soziokulturelle Praktiken verhandeln. Die Vielfalt der Stadt und ihre kontroversen Narrative führen zu Zusammenstößen zwischen religiösen, kulturellen und sozialen Gruppen. Die ständigen Transformationsprozesse sind geprägt von individuellen und kollektiven Erinnerungen der Postkolonialen und Nachkriegsstadt Beirut. In dieser Studie untersuche ich, ob bestehende Grenzen kultureller Unterschiede durchlässig sind und wie sich transkultureller Praxis entwickelt hat. Crossmediale Designlösungen übersetzen meine Begegnungen mit soziokulturellen Praktiken in der komplexen Stadt. Bild und Text dienen hier als Instrument der Reflexion hybrider Nachbarschaften, Umgebungen, Gemeinschaften und Individuen. Wie kann ich soziokulturelle Praktiken verschiedener Stadtteile in Beirut übersetzen? Was ist meine Position und Verantwortung als Erzeuger von Bild und Text? Wie kann ich als Designer in transkulturelle Diskurse intervenieren?  Durch das Experimentieren mit Bild und Text versuche ich neue Methoden der Bilderzeugung zu entwickeln, und die Durchlässigkeit von Grenzen im Alltag Beiruts zu untersuchen. Das Ziel ist die Gestaltung crossmedialer Räume, und die Verhandlung physischer und nicht-physischer Grenzen. Mit meiner Arbeit möchte ich einen Beitrag zur Design- forschung leisten, und die Möglichkeit von Design aufzeigen, Fragen über Stadt und Gesellschaft zu beantworten.

Narrative der Nachkriegsstadt Beirut

Seit Jahrhunderten ist Libanon bekannt für die Diversität kultureller Gruppen, Ethnien und Gemeinschaften. Durch den Einfluss zahlreicher Völker wie den Römern, Osmanen oder Franzosen, war die Gesellschaft schon immer ein hybrides Gebilde und im ständigen Wandel. Nach der Unabhängigkeit, in den 60er Jahren, entwickelte sich Beirut schließlich zu einer lebendigen und offenen Stadt (Kassir). Viele Künstler prägten die libanesische Identität, und Beirut wurde bekannt als intellektuelles arabisches Zentrum. Doch parallel schufen die Eliten und Autoritäten eine sozio-ökonomische Kluft und das multikommunale Regime scheiterte. Politische und religiöse Gemeinschaften verlagerten ihre Kämpfe auf die Straße und der libanesische Bürgerkrieg brach aus (1975-1990). Der Zerfall des Regimes und die Herausforderungen des Landes brachten die Menschen zurück, um sich mit ihren Gemeinden zu identifizieren (Harris). Religiöse und politische Positionen wurden ausgetragen, deren materielle und immaterielle Strukturen bis heute sichtbar sind. Neben dem festgefahrenen Narrativ der Nachkriegsstadt Beirut, gibt es alternative Perspektiven auf die Stadt. Denn die Öffentlichkeit im Libanon war schon immer aufgeschlossener und freier gegenüber verschiedener religiöser und politischer Gruppen als in anderen arabischen Ländern. Um die Kontroverse um Libanons Identität zu verstehen, führt Haugbolle den Begriff »Erinnerungskultur« ein, der multiple, individuelle und kollektive Erinnerungen als gemeinsame Handlung darstellen soll. Haugbolle hebt hervor, dass der libanesische Bürgerkrieg nur von Autoritäten vertreten wurde. Geschichte ist oft ein Machtkonstrukt, das von politischen Gruppen definiert wird, die aus ihrer Sicht historische Zeichen setzen. Wenn wir jedoch die libanesische Kultur- und Medienproduktion im Laufe der Zeit analysieren, können wir verstehen, dass Beiruts kontroverse Identität in ihren Fragmenten selbst gesehen werden muss – nur wenn Sie verschiedene Schichten und Erzählungen der Geschichte aufdecken, können wir die »libanesische« Identität verstehen.

Bestimmungen von Raum und Kultur

Die Fragmente der Identität und die Antworten auf die Frage der kulturellen Zugehörigkeit können im Moment der Überschneidung gefunden werden. Bhabha beschreibt den Moment der Suche als »den Moment des Transits, in dem sich Raum und Zeit kreuzen, um komplexe Gestalten von Differenz und Identität,Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen, Inklusion und Exklusion zu erzeugen«. Verhandlungen libanesischer Identitätskonzepte aufgrund von Kolonialismus, Krieg, Migration und Globalisierung prägen unsere Welt. Auch aufgrund von Überlagerungen der Vergangenheit und Gegenwart stoßen Narrative und Perspektiven ständig aufeinander. Die Auflösung von Kategorien und die Verlagerung kultureller Unterschiede beginnt mit der Analyse bestehender Prozesse. Im Libanon, wo sich verschiedene Gruppen und Gemeinschaften treffen, und das multikommunale Regime, kodifizierte Konzepte kultureller Unterschiede bestimmt, liegt die Macht bei Eliten und Autoritäten. Der Moment des Aufbrechens von Machtkonstrukten und der Verschiebung von Repräsentationsstrategien ist für Bhabha von wesentlicher Bedeutung und kann in seinen sogenannten »dritten Räumen« erzeugt werden. Ein Raum, der für eine Idee steht und neue Realitäten schafft. Ein »Raum des Denkens« mit der Chance, neue kulturelle Bedeutungen und Produktionen zu definieren und zu erschließen.

 

Kunst und Design als Verhandlungsraum

Künstlerisch-gestalterische Projekte können soziale Realitäten übersetzen und Kritik an den kulturellen Konzepten unserer Gesellschaft ausüben. Mein Projekt präsentiert einen solchen »dritten Raum«, einen transvisuellen, nicht-physischen Raum, indem sich Zeit und Raum überschneiden. Verborgene Erzählungen werden neu lokalisiert und im »Dazwischen« durch Bild und Text sichtbar. Festgefahrene Muster werden überschrieben und kulturelle Unterschiede neu lokalisiert. Es findet eine Verlagerung statt – von der einfachen Betrachtung von Verlust und Vergangenheit, zu einer Suche nach alternativen Identitätsvorstellungen. Das Imaginäre setzt persönliche Perspektiven, Erfahrungen und unausgesprochene Gedanken frei. Anhand theoretischer und praktischer Beispiele erörtert die Theoretikerin Naeff wie soziale,wirtschaftliche und politische Diskurse, durch die Kunst Beiruts Identität neu konstruiert wird. Im Schaffungsprozess von Kunst, Literatur, Performances oder Theater liegt die Macht der Dekonstruktion verallgemeinerter Bilder und kultureller Identitätsvorstellungen.

Crossmedia als Orientierung im Raum

Auf visueller Ebene dokumentiere, archiviere und verhandle ich meine Begegnungen soziokultureller Praktiken in  Beirut. Doch erst mit der Akzeptanz meiner Subjektivität von Erkenntnissen besteht die Möglichkeit, meine Erfahrungen auszuwerten. Husserl sagt, dass jeder einen Ort hat, von dem aus er Dinge sieht, was zu unterschiedlichen Erzählungen und Wahrnehmungen führt. Er argumentiert, dass unsere Korrelation mit dem Raum und unserem Körper das Bewusstsein erweitert und uns unsere Position verstehen lässt. Ich sehe den Einsatz von Crossmedia als Experiment, einen Dialog mit meiner Umgebung zu schaffen. Während ich zunächst den Alltag von Beirut mit nicht-Bewegbild und Text dokumentierte, ergänze ich später Bewegtbildern und Audio. Die Verwendung von Crossmedia und deren spätere Dekonstruktion eröffnet mir vielschichtige Aspekte der Stadt und der Gesellschaft zu erkennen. Durch die freie Mediengeneration versuche ich, die Grenzen kreativer Methoden aufzulösen und neue Konzepte zu entwickeln. Ich möchte nicht reproduzieren, sondern neue Strukturen und visuelle Kommunikationsräume schaffen, die in soziokulturellen Diskurse intervenieren und einen Dialog für neue Gestaltungsperspektiven eröffnen. Auf der Ebene der visuelle Dokumentation, Beobachtung, Interviews und Intervention produziere ich Narrative, die größere soziale Strukturen und Systeme erklären und die auf verschiedene Kontexte angewendet werden können.

Case Study und Research

Während meiner zwei Aufenthalte in Beirut, 2018 und 2019, lebte ich im Viertel Karakol El-Druze. Das Leben vor Ort gab mir ein Verständnis für tägliche Dynamik der Nachbarschaft. Die Hauptstraße, Osman Bin Aaffan, wurde von kleinen Unternehmen dominiert, die Blumen, Tätowierungen, DVDs, Waffen oder kosmetische Behandlungen anboten. Ladenbesitzer und Bürger teilten sich die Bürgersteige, setzen sich auf Plastikstühle und tranken Kaffee aus kleinen Tassen. Kurz nach dem Einzug in meine Wohnung, wussten die Nachbarn von mir und versuchten mich kennenzulernen. Ich schätzte die Vertrautheit mit dem Lebensmittelhändler, dem Gemüseverkäufer oder dem Kioskarbeiter und öffnete mich den Menschen um mich herum. Die Interaktionen halfen mir die Stadt und die Gesellschaft besser zu verstehen. Da sich meine Arabische Schule (ALPS) und die American University of Beirut in Hamra befanden, durchlief ich regelmäßig verschiedene Sektoren wie Zarif, Mar Elias, Fatwa, Sanayeh, Tallet El-Drouz und Snoubra. Jeden Morgen nahm ich entweder einen »Service«, das libanesische Sammeltaxi, und blieb im Verkehr stecken oder lief Richtung Norden, wobei ich das Straßengeschehen beobachtete. Ich bewegte mich zwischen den Grenzen und begegnete täglich einer Vielzahl von soziokultureller Praktiken. In Hamra änderte sich das städtische Umfeld. Die Hauptstraße, Hamra Street, war voller Bars, Geschäfte und Clubs, dort besuchte Cafés oder kaufte neue Kleidung. Die Leute mit denen ich mich in Hamra traf, gehörten verschiedenen Gruppen und Religionen an. Meine Forschung konzentriert sich weder auf eine einzelne Nachbarschaft noch auf bestimmte Praktiken in Beirut. Stattdessen möchte ich meine verschiedenen inter-subjektiven Begegnungen beschreiben und Transaktionsstrukturen mehrerer städtischer Gebiete sichtbar machen.

Encounter l: lebnani w aktar

lebnani w aktar zeigt die Libanesisch-Arabische Sprache als Verhandlungsraum von Arabisch, Assyrisch, Osmanisch, Türkisch, Griechisch, Französisch oder Englisch. Das Projekt erforscht die Bedeutung und die Bildlichkeit der libanesisch-arabischen Sprache. Die Annäherung an die Sprache hilft mir Realitäten zu verstehen, und bisher verborgene Dimensionen soziokultureller Ebenen zu verstehen. Während meines Sprachkurs in Beirut versuche ich mich in die Lage verschiedener Identitäten und Situationen hineinzuversetzen, wirklich zu sprechen und Menschen zu verstehen. Die Übersetzungen meiner Begegnungen kennzeichnen sich durch Wort-für-Wort Übersetzungen, sowie Übersetzungen der soziokulturellen Bedeutungen. Visuell übersetzt werden alltägliche Gespräche, die transkulturelle Praktiken durch Sprache transportieren, und durch die Form von Video Projektionen, bestehend aus Text und arabischen Schriftbildern, wieder sichtbar werden. 

Dokumentation – Encounter l – 7,81 kB

Encounter ll: the neighbor before the house

the neighbor before the house konzentriert sich auf die fotografische Praxis als Vermittlung zwischen mir und meiner Umgebung. Aufgrund der Vielzahl von Religionen, Kulturen und Gruppen weisen die Stadtteile und Nachbarschaften in Beirut eine Reihe unterschiedlicher visueller Identitäten auf. Durch meine Kamera werden die verschiedenen urbanen Räume für mich zugänglich und mit meiner Kamera bin ich Teil der Umgebung. Vor Ort wanderte ich umher, ließ die Dinge auf mich zu kommen und versuchte Codes, die mich umgaben, zu entdecken. Durch die Analyse der unterschiedlichen Atmosphären werden soziokulturelle Beziehungen für mich sichtbar, und geben mir die Möglichkeit die Durchlässigkeit von Grenzen erfahren. Insgesamt untersuchte ich 49 verschiedene Gebiete wie Hamra, Corniche, Downtown oder Ras Beirut. Ich visualisiere und übersetze soziokulturelle und transkulturelle Praxis, das Straßenleben, homogene und heterogene Merkmale, Gebäude, Flaggen, starre und fließende Grenzen, Aktionen, besetzten Raum, Menschen, Zwischenräume, religiöse Merkmale, Ähnlichkeiten und Unterschiede. Meine Bild Projektionen der Beobachtung stehen nebeneinander, vervollständigen, konferieren, multiplizieren oder verschmelzen miteinander.

Dokumentation – Encounter ll – 7,92 kB

Encounter lll: alifein

alifein untersucht Grenzüberschreitung durch Begegnungen in Sammel-Taxis namens service im Libanon. Das service überwindet täglich räumliche und soziale Konflikte, indem die Fahrer Stadtteile durchkreuzen und Menschen unterschiedlicher Herkunft transportieren. Das service ist das meinst genutzte informelle, öffentliche Verkehrsmittel und gilt als Reaktion der Zivilgesellschaft auf das inkompetente Regime. Der Fokus liegt auf den Verhandlungen von service-Fahrern mit ihrem urbanen Raum, den Bewohnern und den Macht-Strukturen der Stadt. Für fünf Monate fuhr ich täglich service, und lernte eine Vielzahl an Fahrern, ihren Kunden, ihre Gespräche, einstellungen und Umgebungen kennen. Die Taxifahrten führten mich zu spontanen und zufälligen Alltagssituationen. Die Begegnungen transkultureller Praktiken dekonstruierte ich mit anhand meiner Video- und Audioaufnahmen. Die Video Projektionen zeigen verschiedene städtische Gebiete in Beirut und Menschen verschiedener Gruppen, Gemeinschaften, Kulturen, Religionen und sozialer Status. 

Dokumentation – Encounter lll – 8,12 kB

Encounter lV: things within me

things within me übersetzt transkulturelle Verhandlungen vier libanesischer Mädchen und jungen Frauen mit in ihrer Persönlichkeit und Umgebung. Die neue Generation im Libanon repräsentiert Transformationsprozesse unterschiedlicher Gemeinschaften, religiöser Überzeugungen und moralischer Normen. Mein Ansatz konzentriert sich auf individuelle Gedanken, subjektive Wahrnehmungen und persönliche Vorstellungen von Frauen-Identitäten im Libanon. Die Frauen, die ich interviewe und mit denen ich in einen visuellen Prozess trete, sind Sunniten, Drusen und Christen. Ayda, Samira, Mikella und Maysa habe ich während meiner Zeit in Beirut an der Universität, über Freunde oder durch meine Projekte kennengelernt. Es sind Frauen, mit denen ich über die Zeit zusammengewachsen bin – und ich die Gelegenheit hatte, ihre Identitätsebenen zu verstehen und die Verhandlung von sich überschneidenden Narrativen und Perspektiven nachzuvollziehen. Der persönliche Zugang wurde durch individuelle Begleitung im Alltag ermöglicht. Losgelöste Video- und Audiosequenzen übersetzen, wie sie mit ihrer Stadt und Gesellschaft umgehen und sich von verallgemeinerten Bildern und festgefahrenen Strukturen befreien. 

Dokumentation – Encounter lV – 8,12 kB

Janna Lichter
Encounters of socio-cultural Practices in Beirut:
Designing Prototypes and Spaces of Communication
Abschlussarbeit

Hochschule Düsseldorf
Fachbereich Design
betreut von Prof*in Anja Vormann und
Prof*in Dr*in Yvonne P. Doderer