From Paris with Love

Wie interagieren alle miteinander?
Welche Spuren hinterlässt der Mensch?

»Meine Mutter ist Anfang der 80er Jahre zusammen mit ihrer Schwester aus Thailand nach Europa gekommen, zusammen waren sie in Südfrankreich, danach in Paris, meine Mutter ist dann allein weiter nach Deutschland, weil sie hörte, dass das Leben hier allgemein einfacher sei und sie mehr Unterstützung bekäme. Meine Tante ist damals in Paris geblieben, da sie bereits verheiratet war und drei Kinder hatte. Außerdem hatte ihr Mann einen Job in einer Metzgerei gefunden. Wir waren in den Ferien häufig bei meiner Tante, und da ich sonst keine Familie mütterlicherseits in Deutschland hatte, war ich immer sehr gerne dort. Allerdings verknüpfte ich semantisch den Wohnort meiner Tante mit Paris. Noisy-le-Grand, der Vorort, in dem sie wohnt, war für mich also immer Paris. Irgendwann habe ich dann verstanden, dass ich Paris an sich eigentlich noch nie wirklich gesehen hatte, obwohl wir so nah dran waren. Durch diese frühen Erfahrungen habe ich ein ganz anderes Bild von Paris als die meisten Touristen, weil ich beide Seiten, also den Stadtkern als auch die Banlieue, mittlerweile sehr gut kenne. Meine Arbeit ist zwar politisch und soll den Betrachter zum Hinterfragen von zum Beispiel soziologischen Strukturen und Tourismus bringen, jedoch ist es vor allem auch eine sehr persönliche Geschichte, die meine Erfahrungen und Erlebnisse wiedergibt und eine selten gesehene Facette der Stadt zeigt.

Im Vordergrund meiner Fotografie steht grundsätzlich, dass ich Dinge in ihrer Einfachheit abbilde und nicht versuche eine Atmosphäre zu schaffen, wenn diese nicht da ist. Genauso habe ich die Architektur in ihrer eigenen Einfachheit, aber auch ihrer eigenen Ästhetik fotografiert, ohne die herrschenden Zustände zu romantisieren. Der Zusammenhang zwischen der Gesellschaft, der einzelnen Person und der Architektur und der öffentlichen Plätze ist mir wichtig. Wie interagieren alle miteinander? Welche Spuren hinterlässt der Mensch?«

Historischer Hintergrund
und die Entwicklung der stigmatisierten Vororte

Die Arbeit soll nicht das touristische Paris entlarven, die Scheinwelt Disneylands kritisieren oder gescheiterte politische Interventionen aufzeigen. Der Blick soll über die klassischen Zuschreibungen hinausgehen. Bereits in vorherigen Arbeiten hat sich Sarah Hollfeld mit Plattenbauten beschäftigt.

Viele der Hochhaussiedlungen sind durch die Wohnungsnot in den Nachkriegsjahren des zweiten Weltkriegs entstanden und finden sich in der Nähe von Industriestandorten. Die Konstruktion der Hochhaussiedlungen geht auf die naturalistische Philosophie des Architekten Le Corbusier zurück, der die Stadt in deutlich getrennte Lebensräume (Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Freiraum) gliedern wollte. Die moderne Architektur war ursprünglich ein Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs und den damit einhergehenden veränderten Lebensstil. Bewohnt wurden die Hochhaussiedlungen zunächst von Menschen aus den Provinzregionen Frankreichs, die wegen der Arbeitsmöglichkeiten in die Städte wanderten. Außerdem zog die untere Mittelschicht aus den überbelegten Stadtwohnungen in die Hochhaussiedlungen der Vororte. Die neue Stadtplanungspolitik sollte zu geringeren Kosten größtmöglichen Komfort und Lebensbedingungen bieten, in denen sich ein neuer Wohn- und Lebensstil ausprägen sollte. Infrastrukturelle Mängel, bedingt durch eine strikte Trennung von Wohnen und Arbeiten, sowie bauliche Missstände, machten die Hochhaussiedlungen unattraktiver.

»Schon zu Beginn der 1960er Jahre werden die ersten Klagen laut über die Unmenschlichkeit eines Lebensraums ohne Straße und öffentliche Räume der Kommunikation und Geselligkeit, der seine Bewohner – insbesondere die ‚der Frauen am Herd‘ – zu neurotisierender Isolation verdammt.« Castel, Robert: Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, Hamburg 2009, S. 20

Die Hochhaussiedlungen wurden später von Einwanderern aus den ehemaligen französischen Kolonien, insbesondere aus Nordafrika, die unter dem Postkolonialismus litten, sowie von Menschen aus Südeuropa, bewohnt. Diese Gebiete galten anfangs als Innovation, die den Erfordernissen einer modernen städtischen Wohn- und Lebensform entsprechen sollten. Doch die in den 70er Jahren einsetzende Deindustrialisierung traf besonders Vorstädte in den Industriegürteln der französischen Metropolen und führte zu hoher Arbeitslosigkeit unter den Vorstadtbewohnern.

Parallel zu der wachsenden Arbeitslosigkeit erfolgte ein sukzessiver Wegzug der bisher noch verbliebenen Bewohnern aus der Mittelschicht. In den Großwohnsiedlungen entwickelten sich ökonomisch schwache Bevölkerungsgruppen mit überproportionalem Zuwandereranteil. Es entstand eine Kombination aus Segregation, infrastruktureller Mängel und politischer Vernachlässigung. Die geringeren Beschäftigungsmöglichkeiten aus Qualifikations- oder Konjunkturgründen erschwerten über Generationen hinweg soziale Teilhabe.

Die Stadtforschung nennt unterschiedliche Gründe für das Scheitern der umfangreichen Interventionen. Viele beruhen auf homogenisierenden Annahmen über die Bewohner der Viertel. Sie trafen bei Weitem nicht auf alle Bewohner zu und konnten daher kaum Effekte zeigen. Neben einer defizitären Ausstattung des Wohnumfeldes, einer schlechten Anbindung an die Innenstädte und desolaten Wohnverhältnissen liegen auch viele andere soziale Indikatoren seit Jahren deutlich unter dem nationalen Durchschnitt.

Der Staat und die Politik begünstigte die Entstehung von Problemvierteln. Dies hat eine lange Geschichte, denn ärmere Stadtviertel und ihre marginalisierten beziehungsweise unerwünschten Bewohner werden als Bedrohung behandelt, die polizeiliche Maßnahmen erfordern. Schon seit dem 19. Jahrhundert sind polizeiliche Überwachungen von Arbeitervierteln und damit verbundene Repressionen Bestandteil des städtischen Regierens, wobei das Ausmaß der Repressionen gegen jene Bevölkerungsgruppen heute am stärksten ist, die als Ausländer*innen, People of Color oder Muslime und Muslima identifiziert werden.

Bei den Wohnsiedlungen handelt es sich um eine Welt, die vielen Polizisten, insbesondere wenn sie ihre erste Stelle als Ordnungshüter antreten und dazu noch aus der Mittelschicht oder der französischen Provinz kommen, oftmals völlig unbekannt ist und die sie kaum verstehen können. Häufig werden die Bewohner und Jugendlichen von den Beamten für ihre Situation verantwortlich gemacht, ohne die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, die teilweise fortbestehenden postkolonialen Verhältnisse, kurz die strukturellen Ungleichheiten und Machtverhältnisse, zu berücksichtigen. Im Gegenteil: Sie werden als Argumente genutzt, um die Bewohner der Viertel zu demütigen.

Die Architekturfotografie ist ohne die dokumentarisch-typologische Aufnahmepraxis von Bernd und Hilla Becher undenkbar. Ihre nach strengen Regeln ablaufende und nach Objektivierbarkeit strebende Fotografie ähnelt einem enzyklopädischen Archivieren nach Bauformen von Architektur. Die Sachlichkeit ihrer Fotografien welche durch Zentralperspektiven, Verzerrungsfreiheit und Menschenleere erzielt wurde, hat in Bezug auf die Bildsprache nichts mit Sarahs Fotografie gemein. Trotzdem teilen sie im Sinne der Neuen Sachlichkeit das Ziel, die Architektur in ihrer Einfachheit und Schönheit abzubilden, wenn dies auch zumindest bezogen auf Sarahs Fotografie nur einen Teilaspekt darstellt. Die Architektur wird im Kontext zu der Gesellschaft abgebildet, eine Momentaufnahme der gesellschaftlichen Situation, nicht bloß ein autonom wirkendes Gebäude. Was passiert in unmittelbarer Nähe der Gebäude? Wie verhalten sich die Menschen auf den öffentlichen Plätzen?

Sarah Hollfeld
From Paris with Love
Abschlussarbeit

Hochschule Düsseldorf
Fachbereich Design
betreut von Prof. Mareike Foecking und
Mark Hermenau

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Beitrag von Yohanan Khodr