Draußen sein

Neun Geschichten von wohnungs- und obdachlosen Frauen und Männern aus Düsseldorf

»Draußen sein« erzählt die Geschichten von Rolli, Nicki, Uwe, Andi, Markus, Sandra, Domenico, Aline, und Timo mit ihren Höhen und Tiefen. Der eine ist studierter Musiker, spielt Bach-Fugen auf der Gitarre und komponiert eigene Stücke. Die andere steigt als Prostituierte zu Lkw-Fahrern, und wieder ein anderer sammelt unermüdlich Flaschen, um kein Geld vom Staat anzunehmen. Was treibt sie an? Was nimmt ihnen Kraft? Kann Obdachlosigkeit jeden treffen? Und warum leben in unserer reichen Gesellschaft überhaupt Menschen auf der Straße, obwohl es Hilfsangebote gibt? Die Porträtierten geben persönliche Antworten. Wir haben sie zwei Jahre begleitet und aufgeschrieben, was sie zu sagen haben – über sich selbst und unsere Gesellschaft. Alle Geschichten geben ihre ganz eigene Sicht wieder. Wir haben versucht, nicht zu beschönigen, nicht zu dramatisieren, sondern authentisch zu erzählen, was wir erfahren haben. Alle neun Menschen leben in Düsseldorf, einer Stadt mit einem großen Kontrast zwischen Arm und Reich. Die Gründe für den Verlust der eigenen vier Wände sind unterschiedlich: Mal sind es Schulden, mal eine Sucht, Trennung, psychische Probleme oder die Befreiung aus Zwängen. In jedem Fall ringen die Menschen um ihr Überleben und ihre Würde. Die neun Frauen und Männer in diesem Buch haben einen Weg gefunden. Sie sind zäh, widerspenstig und haben gelernt, wieder aufzustehen. Uns ist bewusst, dass die Gespräche alle Beteiligten aufgewühlt haben, weil sie immer wieder mit ihrer Geschichte konfrontiert wurden. Trotzdem wollten sie mitmachen, weil sie als die Menschen wahrgenommen werden möchten, die sie sind.

Nicki und Snoopy

Es war für sie als Kind die schlimmste Strafe, keine Aufmerksamkeit zu bekommen. Lieber provozierte Nicki Schläge, als nicht beachtet zu werden. Sie trieb ihre Eltern zur Weißglut. Regelmäßig eskalierten heftige Streits hinter der bürgerlichen Fassade eines Mehrfamilienhauses. Am Ende bekam Nicki Schläge, damit sie wieder ruhig war. Aber das war sie nicht. Erst wenn sie aus dem Haus gerannt und so lange gegen eine Mauer geschlagen hatte, bis sie nicht mehr konnte, beruhigte sie sich. Ich will nie so werden wie ihr, schrie sie ihre Eltern an.  

[Von dieser Welt hat sie sich weit entfernt. Mit 35 Jahren lebt Nicki in einer Hütte im Wald. Ganz allein, nur mit ihrem Hund Snoopy. Das Haus aus Brettern und Lehm hat ein Bekannter gebaut, der selbst mehrere Jahre obdachlos war. Nicki dichtete es gegen Unwetter ab. In der rechten hinteren Ecke richtete sie ein Matratzenlager ein, links eine Kochnische. Direkt am Eingang stattete sie eine Sitzecke mit Kissen und Bildern bunt aus. Der Ort wirkt surreal. Er liegt versteckt am Rand der Stadt und erinnert an die Abenteuer-Bude einer Kinderbande. Im Gegensatz dazu aber ist diese Hütte ein echter Zufluchtsort. So wie Nicki leben nur wenige Obdachlose im Wald. Die meisten brauchen die Stadt, um ihren Geschäften nachzugehen: In den sozialen Einrichtungen duschen, essen, reden – und auf der Straße Geld verdienen durch betteln, Pfand sammeln oder Zeitungen verkaufen. Auch Nicki fährt fast täglich mit dem Fahrrad am Rhein entlang in die Altstadt. Sie gehört zu einer Clique von mehreren jungen Leuten, die mit Hunden auf der Straße leben. Wenn die Freunde Geld brauchen, setzen sie sich auf die Bolkerstraße, die touristische Meile der Altstadt mit Bars und Brauereien. Sie stellen dort Becher auf und beschriften sie mit verschiedenen Verwendungszwecken: »Kiffen«, »Bier«, »Puff«, »Nahrung und Pflege«. Ihre Schnorr-Methode ist sehr erfolgreich. Viele Leute lachen und zahlen für die Idee. Am vollsten ist am Ende des Tages fast immer der Becher fürs Kiffen. Nicki ist die einzige Frau in dieser Runde, sie ist groß, souverän und besitzt Autorität. Wenn ein Streit droht, erinnert sie die anderen daran, dass sie alle nichts haben und in einem Boot sitzen. Sie kann in diesem Umfeld gut schlichten. Fast immer findet sie den richtigen Ton und eine Lösung. Auch die Liebe zu Tieren hält diese Gruppe zusammen. Alle haben einen Hund. Die Männer zelten mit den Tieren mitten in der Stadt, meistens am Rhein. Im vergangenen Winter durften sie ihre Zelte unter einem Pavillon am Museum Ehrenhof aufbauen. Das Dach bot ihnen Schutz vor dem Wetter. Auch Nicki hat den Winter dort verbracht, als sie die Hütte noch nicht hatte. An vielen Tagen gingen die Temperaturen bis minus 15 Grad runter. Wenn es so kalt ist, zieht Nicki nachts mehrere Pullover und Hosen übereinander. Sie nimmt ihren Hund Snoopy mit in den Schlafsack. Er ist ihre lebendige Heizdecke.]

Die Schattendiva

Es gibt einen wunden Punkt in ihrem Leben. Damals war Sandra 18 Jahre alt. Nur wenigen Menschen erzählt sie, was passiert ist. Ihr Leben hätte anders verlaufen sollen. Sie wollte Kinderpflegerin werden und selbst Kinder haben. Doch an nur einem Abend zerriss ihr Lebensplan. Sie ging in eine Falle, die ihr sieben Männer stellten. Von diesem Tag an stürzte sie ab. So tief, dass sie am Ende als Prostituierte auf der Straße landete. Was genau ihr passiert ist, darüber kann sie auch nach 30 Jahren nicht reden. Sie hat es tief in sich vergraben, sonst könnte sie nicht überleben. 

»Wo Licht ist da gibt es auch Schatten. Oft wollen wir aber den Schatten nicht sehen, aber ich lasse mich da nicht beirren, denn ich bin die Schattendiva, der keiner begegnen will. Wieso nicht - weil der Schatten ignoriert wird. Aber eins ist sicher, die Schattendiva ist genauso existent, wie die Diva des Lichts. Ja, sie mag ihre Ecken und Kanten haben, aber ihr Charisma ist vortrefflich. Wenn nicht sogar größer, denn das, der Diva des Lichts und doch wird sie gern übersehen. All das muss ich ertragen, was manchmal gar nicht so einfach ist, aber wir Schattenkinder sind einiges gewöhnt. Da fließen dann ein paar Tränken und dann setzen wir wieder die Schönwettermiene auf, aber wir tun alles mit Würde, denn wir lassen uns nicht in eine Schablone pressen. Wir sind wie wir sind. Wechsle nicht die Straßenseite nur weil du eine Schattendiva siehst, denn ich die Schattendiva lächelt dich an und du schmilzt dahin.«
Sandra

[Selbstbewusst geht sie ihren Weg. Sie ist mit allen Menschen auf Augenhöhe und auf ihre Würde bedacht. Amerikaner würden sie als »tough cookie« bezeichnen. Als einen Keks, der nie krümelt, weil er so zäh ist. Sie findet immer einen Weg, auch wenn sie zwischendurch strauchelt oder in eine Depression abgleitet. Das passiert ihr manchmal, weil ihr Leben wenig Halt bietet, weil ihr die Privatsphäre fehlt und sie sich oft schutzlos ausgeliefert fühlt. Wenn sie erzählt, scheint sie fast alles schon erlebt und ausprobiert zu haben. Sie hat in Hinterhöfen übernachtet, sie wurde verschleppt, sie hatte One-Night-Stands mit Frauen, sie wurde mit CS-Gas angesprüht. Zu jedem Stichwort fällt ihr sofort etwas ein. Sie sprudelt über von Geschichten, knüpft an jedes Stichwort gleich eine neue an. Mit ihr wird es nie langweilig. Immer wieder hat es Phasen gegeben, in denen sie eine eigene Wohnung hatte. Aber immer holten sie die alten Angstzustände und Depressionen ein. Dann beginnt sie, ihre eigene Wohnung zu meiden, ist nur noch unterwegs und flieht zu Wohnungs-Freiern. Das sind Männer, die ihr Bett für eine Nacht gegen Sex anbieten. Viele wohnungslose Frauen gehen zu ihnen, weil es gefährlich ist, nachts allein auf der Straße zu schlafen. Auch Sandra hat in den Nächten Angst. Vor Vergewaltigung. Vor Hunden, die sie für eine Beute halten. Vor Menschen, die ihre Aggression an Obdachlosen auslassen. Sie treten einfach zu, wenn sie eine Person wehrlos in ihrem Schlafsack liegen sehen. Je dunkler die Ecke, desto weniger fällt ihre Tat auf. Sie nennen es »Obdachlose kicken«, und es passiert immer wieder.]

Der Klang von Freiheit

Er kann auf der Gitarre Bach-Fugen spielen und hat Musik studiert. Er schwimmt acht Kilometer und joggt rückwärts. Er hat gegen Atom-Raketen demonstriert und wäre gerne Friedensforscher geworden. Doch seit mehreren Jahren lebt Uwe auf der Straße, weil er zu oft mit Konventionen gebrochen hat. Er folgte konsequent seinen Interessen und Überzeugungen und distanzierte sich von Menschen, die seine Entscheidungen hinterfragten. Bis ihn irgendwann nichts und niemand mehr hielt, weil er sich von allen und allem frei gemacht hatte. 

[Uwe belegt einen Schwimmkursus beim Hochschulsport. Das Training startet mit Herz-Kreislauf-Übungen, bei denen er sich senkrecht im Wasser halten und nur mit dem Beinschlag fortbewegen soll. Es ist wahnsinnig anstrengend, und er kommt nur langsam voran, aber es funktioniert. Sein Dozent ist Experte für Rückenschwimmen. Auch Kraulschwimmen lernt er in dem Kursus und endlich die richtige Technik beim Brustschwimmen mit Ausatmen ins Wasser. Er wird Langstrecken-Schwimmer. Samstags fährt er zur Regattabahn in Duisburg. Dort sind ab 14 Uhr kaum noch Trainingsboote unterwegs. Uwe sucht am Ufer einen geschützten Platz im Gebüsch, um seine Kleidung und Wertsachen abzulegen. Von dort gleitet er ins Wasser und schwimmt acht Kilometer am Stück. Eine Bahn ist gut zwei Kilometer lang. Für zwei Mal hin und zurück braucht er sechs Stunden. Dabei wechselt er immer wieder die Schwimmtechniken: Rücken, Brust, teilweise Kraulen. Besonders mag er das altdeutsche Rückenschwimmen. Es ist eine Kombination aus dem Beinschlag vom Brustschwimmen und einem gleichzeitigen Armzug wie beim Kraulen. Er blickt dabei in die Baumwipfel und denkt nach: Welche Funktion hat der Einzelgänger für die Gruppe? Sein Musikstudium beginnt Uwe mit 25 Jahren an der Universität Duisburg. Er weiß, dass ihm Betriebswirtschaftslehre mehr Zuspruch im Bekanntenkreis eingebracht hätte. Aber die Musik ist für ihn wie eine Obsession. Seit seinem 14. Geburtstag besitzt er eine Gitarre. Der Onkel hat sie ihm geschenkt. Uwe übt fast jeden Tag. Er bekommt keinen Unterricht, er bringt sich alles selbst bei. Genauso macht er es mit dem Klavier, das ihm eine Betriebsrätin während der Ausbildung schenkt, weil sie es nicht mehr braucht. Erst mit 18 Jahren nimmt er erstmals Unterricht bei einem herausragenden Lehrer, den er über Bekannte kennengelernt hat. Er entwickelt eine solche Meisterschaft, dass er die Aufnahmeprüfung für das Studium mit beiden Instrumenten besteht. Uwe stellt sich oft die Frage, welche Fähigkeiten zusammenkommen müssen, um ein Instrument vollendet zur Geltung zu bringen. Er hält mehrere Dinge für entscheidend: die Feinmotorik, die Konzentrationsfähigkeit, das Seelenleben des Musikers, Ausdauer, Neugierde, Gehör und die Kraft, sich von der Außenwelt abschotten zu können. Der Kopf muss frei sein. Deshalb ist er auch einer der wenigen Obdachlosen, die kein Handy haben. Er will nicht ständig erreichbar sein, will nicht in Dinge hineingezogen werden, die ihn aufhalten. Er will frei sein. Wahrscheinlich ist er auch der einzige Wohnungslose, der Bach-Fugen auf der Gitarre spielen kann. Fugen sind mehrstimmige Stücke, die ein Thema zeitlich versetzt wiederholen. Einige Fugen von Johann Sebastian Bach sind für Lauten geschrieben. Nur Könner spielen sie auf der Gitarre. Uwe hat sich die Fingernägel seiner rechten Hand dafür doppelt so lang wachsen lassen. Er braucht sie, um mehrstimmig zu spielen. Jeder Nagel ist eine Stimme, die Technik eine Kunst. Der Vorteil der Fingernägel ist ihr geringerer Widerstand als beim Spiel mit der Fingerkuppe. So lassen sich höhere Geschwindigkeiten erzielen. Uwe erhält sich diese Fähigkeit, indem er jeden Tag viele Stunden übt.]

Angelo Fortunato

Der Unfall passierte an seinem 24. Geburtstag. Domenico erinnert sich noch an jedes Detail. Seine Familie wollte gemeinsam zu Abend essen. Der Tisch war gedeckt. Um kurz vor 18 Uhr eilte seine Mutter aus dem Haus. Sie wollte mit seiner Schwester eine Überraschung für ihn vorbereiten. Doch sie kehrte nie zurück. Auf einer mehrspurigen Straße in Turin wurde sie von einem Auto erfasst und starb noch an der Unfallstelle. Der Fahrer hatte eine rote Ampel übersehen. 

[Auch 30 Jahre später spürt Domenico noch jeden Tag die Schmerzen, die ihm dieser Verlust zugefügt hat. Seine Mutter war der Mittelpunkt der Familie, eine temperamentvolle italienische Mama – bei ihrer Familie daheim genauso wie bei der Arbeit als Grundschul-Lehrerin. Das letzte, was er von ihr besitzt, ist ein weißer Plastik-Rosenkranz. Er trägt ihn um den Hals, damit er sich daran festhalten kann: an diesem Erinnerungsstück und an seiner Musik. Domenico sitzt jeden Tag im U-Bahn-Tunnel an der Tonhalle und spielt Keyboard. Die Pendler kennen ihn, viele nicken ihm zu. Domenico ist ein großer, hagerer Mann. Er singt mit einer kratzigen Stimme leidenschaftlich italienische Lieder und spielt dazu eigene Kompositionen. Seine Musik schallt bis zum Bahngleis. Sie klingt so schön, dass viele Leute lächeln. Oft sieht er es nicht, weil er die Augen schließt, wenn er Musik macht. Er versinkt dann ganz in der Melodie und den Worten. Im Kopf ist er weit weg. Er steht auf einer großen Bühne und spielt ein Konzert. Deshalb sieht er so glücklich aus. Erst wenn die Zugabe verklingt, fühlt er sich wieder so ramponiert wie sein Keyboard aussieht. Das Instrument liegt vor ihm auf den Pflastersteinen. Es hat Risse, weil es ein paar Mal heruntergefallen ist. Ein paar Tasten funktionieren nicht mehr, weil sich Dreck in den Ritzen festgesetzt hat. Sein Allgemeinzustand ist nicht gut. Aber es lebt, es funktioniert, genau wie Domenico. Er redet nicht gerne über seine Vergangenheit. Wie viele Menschen auf der Straße gibt er nur selten etwas von sich preis, um nicht mehr angreifbar zu sein, auch nicht für andere Obdachlose. Jeden Tag besucht ihn ein Kumpel, meist gegen 17 Uhr. Er fährt mit dem Fahrrad durch den Tunnel und hält bei Domenico. Der Unbekannte bringt ihm immer etwas mit, eine Flasche Wasser, Batterien für das Keyboard oder Tabak. Sie klopfen einander auf die Schulter und rufen sich auf Italienisch Mut zu, bevor der Besucher weiterfährt. Domenico weiß fast nichts über ihn. Nur, dass er auch geschieden ist und Kinder hat. Das verbindet sie. Die Trennung, der Rauswurf und die harte Landung auf der Straße. ]

Nie wieder etwas müsssen – 3,29 kB

Der schönste Ort, an dem er je draußen schlief,
war eine Hängematte am Strand. Er spannte sie in einem Waldstück zwischen Kiel und dem Ostseebad Laboe auf. Darüber befestigte er eine Plane, die ihn vor Regen schützte. Morgens rollte er die Sachen wieder auf und versteckte sie unter einem Tarnnetz, damit sie nicht geklaut wurden. Dann ging er schnorren und angeln.

Janna Lichter (Gestaltung und Fotografie)
mit Stefanie Kaufmann (Text)
Draußen sein
Semesterarbeit

Hochschule Düsseldorf
Fachbereich Design
betreut von Prof. Anja Vormann

Weiterführende Links

Angelo Fortunato
www.draussensein-duesseldorf.de
Design made in Germany
Janna Lichter