Über das Ankommen

Zunächst war die Containerwohnsiedlung nur als temporäre Lösung gedacht: mit über 60 000 Studierenden steht Amsterdam, wie viele andere Städte, vor der Herausforderung, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Ein 23qm² großer Container kostet monatlich circa 420€; es gibt insgesamt 380 Wohneinheiten. Vor zwei Jahren hat man auch Geflüchteten die Möglichkeit gegeben, einen Container anzumieten. Das folgende Interview ist Teil einer Interviewserie, die mit Bewohnern der Containerwohnsiedlung geführt wurden. Das Interview wurde von mir auf Arabisch geführt, transkribiert und übersetzt. Der Interviewpartner heißt Ahmad, ist 23 Jahre alt, kommt aus Aleppo (Syrien), lebt und arbeitet in Amsterdam (Niederlande).

Warum bist du aus Syrien geflohen?

Ich habe Syrien aufgrund des Krieges und wegen des Militärdienstes verlassen. Ich wollte nicht dem Militär beitreten mit dem Wissen, dass ich Menschen aus demselben Heimatort töten würde. Darum musste ich das Land verlassen. Die Niederlande habe ich als Zufluchtsort gewählt, weil ein Freund hierher geflohen ist. Er ist hierhergekommen, weil der Prozess des Familiennachzugs schneller abläuft. Ein weiterer Grund war, dass das Land klein ist: Man kann sich hier schneller einleben und entwickeln. Deshalb bin ich hierhergekommen.

Was hat dich als erstes überrascht?

Amsterdam war mir anfangs etwas fremd. Außerdem haben mich die ganzen Fahrräder hier gewundert. Und dass Menschen auf dem Wasser leben. Am Anfang waren mir die Dinge fremd; mittlerweile habe ich mich sehr daran gewöhnt. Und natürlich, dass hier Marihuana frei erhältlich ist. Ich hatte davon gehört, dass es das hier gibt, aber als ich es dann gesehen habe, habe ich mich darüber gewundert. In den Straßen und Cafés wird sehr viel geraucht. Das hat mich erstaunt.

»Wenn mich jemand fragte, wen ich in Syrien habe, müsste ich sagen: ich habe niemanden.« Ahmad

Wie war dein Alltag vor der Flucht?

Das Leben in Syrien hat sich zu Beginn des Krieges nicht sofort geändert. Die Unruhen in anderen Städten haben meine Tage nicht geändert, schließlich haben sie nicht die Orte erreicht, in denen ich mich befand. Der Zustand wurde mit der Zeit zur Normalität. Ich habe nur davon gehört. Später, als die Unruhen auch unsere Region betroffen haben, hat sich mein Alltag geändert: Ich konnte nicht mehr zur Arbeit, ich habe meinen Wohnort nicht verlassen, musste dann letztendlich mit meiner Arbeit aufhören. Jeder ist nur noch in seinem Wohnviertel geblieben. Wir haben uns nicht mehr getraut in ein anderes Viertel zu gehen. Ich habe damals beschlossen, einen kleinen Supermarkt in meinem Viertel mit einem Freund zu eröffnen. Dann wurde die Situation schwieriger. Ich sollte zur Armee, ich wollte aber nicht. Deswegen habe ich mich entschieden, das Land zu verlassen und bin in die Türkei gegangen. Der Supermarkt wurde von meinem Freund weiter betrieben. Meine Familie ist mir später in die Türkei gefolgt. Nachdem sich die Situation weiter verschlimmert hat, musste der Supermarkt geschlossen werden. Bevor ich aber den Supermarkt eröffnet habe, wurde ich von einem Schuss am Bein getroffen und musste ein halbes Jahr zu Hause bleiben, weil ich mich nicht bewegen konnte. In der Türkei war ich in Mersin in der Kunststoffverarbeitung tätig. In der Firma wurden Gemüsekisten hergestellt. Dort habe ich acht Monate für jeweils 12 Stunden pro Tag gearbeitet. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren schwer, deshalb wollte ich nach Europa, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ich bin weniger als ein Jahr in der Türkei geblieben. Als die Grenzen geöffnet wurden, bin ich hierhergekommen. Ich habe nichts mehr in Syrien. Meine Familie lebt in der Türkei. Mir ist da nichts mehr geblieben. Einige meiner Freunde waren in Syrien. Einer lebt jetzt in Deutschland, ein anderer ist in die Türkei gegangen und wohnt jetzt in Istanbul; ein dritter wurde von der Armee eingezogen, und ein vierter ist tot. Keiner ist geblieben. Wenn mich jetzt jemand fragte, wen ich in Syrien habe, müsste ich sagen: Ich habe niemanden, keinen einzigen, keine einzige Person. Das ist der Geschmack des Krieges.

Hast du hier mehr Freiheiten?

Ja. Man kann zum Beispiel frei seine Meinung äußern. Du kannst überall hingehen, ohne Angst zu haben, dass etwas passiert. Hier kannst du frei und in Sicherheit leben. Ich habe mehr nach der Sicherheit gesucht; in Syrien warst du ständig in Angst.

Und vor dem Krieg?

Vor dem Krieg gab es Sicherheit, aber keine Freiheit. Es war schwer. Kritik zum Beispiel an der Politik war nicht möglich. Im Fernsehen sagten sie dir, dass das eine Demokratie ist. Aber in der Realität gab es die nicht. Diese Art von Freiheit hatten wir nicht.

Glaubst Du, dass du hier viel erreichen kannst?

Um ehrlich zu sein, ich sehe es positiv, weil ich hier von vorne angefangen habe; ich lerne. Ich habe wieder mit einer Ausbildung angefangen und arbeite in dem Beruf, den ich auch in Syrien ausgeübt habe. Vielleicht verbessert sich meine Situation in der Zukunft. Aber das weiß ich noch nicht. Momentan ist es aber gut; Arbeit, Freunde, Lernen.

Wie hast du die Sprache gelernt?

Am Anfang dachte ich, es sei unmöglich. Auch einfache Sätze fielen mir am Anfang sehr schwer. Ich habe jedes Wort übersetzt und nachgeschlagen, bis ich irgendwann die Basics konnte. Neben dem Sprachunterricht habe ich Menschen kennengelernt, die sehr gut zu mir waren und mir dabei geholfen haben. Sie haben mir Sätze und Bedeutungen erklärt. Wenn ich nachfrage, erklären mir meine Freunde auf Niederländisch die Bedeutung, und so ist mein Niederländisch gut geworden. Vielleicht etwas weniger als mittelmäßig. Ich verstehe sie, sie verstehen mich, und es läuft gut. Aber bis jetzt finde ich es während der Arbeit schwierig, mich zu verständigen, weil man dafür Fachvokabular braucht, das man während des regulären Sprachunterrichts nicht lernt. Deswegen übe ich jeden Tag.

»Hier kann man nicht einfach auftauchen und sagen, dass man Kaffee trinken möchte. Du weißt zwar, dass es deine Nachbarn sind, aber es hat immer etwas Offizielles.« Ahmad

Und wie fühlst du dich in diesem Container?

Am Anfang dachte ich, es sei schwer, hier zu leben. Es ist nur ein Zimmer, ein Container, und ich bin allein. Zum ersten Mal lebe ich allein. Vorher war ich immer von Menschen umgeben. Aber jetzt bin ich schon zwei Jahre hier. Inzwischen ist es für mich normal, allein zu leben, ich habe mich daran gewöhnt. Was mich stört, ist, dass es kein richtiges Zuhause, kein richtiges Gebäude ist. Von außen wirkt es merkwürdig. Wie eine Flüchtlingsunterkunft.

Was bedeutete Nachbarschaft in Syrien und was bedeutet Nachbarschaft hier?

In Syrien ist es von den Nachbarn abhängig. Der Freund, dem ich hierher gefolgt bin, war mein Nachbar in Syrien und wie ein Bruder für mich. Vielleicht kann man sagen, dass es in Syrien mehr soziales Miteinander in der Nachbarschaft gab. Mehr Kontakte als hier. Hier sieht man sich nicht täglich, und man muss sich zu einem Kaffee verabreden. In Syrien kommt man auch mal unangekündigt zu einem Kaffee vorbei. Die Traditionen hier sind anders als unsere. Hier kann man nicht einfach auftauchen und sagen, dass man Kaffee trinken möchte. Du weißt zwar, dass es deine Nachbarn sind, aber es hat immer etwas Offizielles.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Niederlanden und Syrien?

Gemeinsamkeiten… Gemeinsamkeiten… [Denkpause, Anm. des Autors] Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber die wollen mir gerade nicht einfallen.

Was ist mit der Hilfsbereitschaft oder Gastfreundschaft?

Die Hilfsbereitschaft ist viel höher als bei uns. Vielleicht gibt es das auch bei uns. Aber hier hat man das Gefühl, dass es ohne Gegenleistung geschieht. Das Herz des holländischen Volkes ist rein. Reiner als das jedes anderen Volkes. Natürlich wird dir überall geholfen. Sie machen das aber aus einer inneren Motivation heraus.

Hast Du so eine Art der Hilfsbereitschaft auch in der Türkei erlebt?

Ich kam dort nicht mit den Menschen in Kontakt, obwohl ich da fast ein Jahr gelebt habe. Gegen 6 Uhr morgens bin ich zur Arbeit gegangen, und spät abends habe ich sie wieder verlassen. Nur auf dem Weg zur Arbeit war ich, an der ich an der frischen Luft. Einen Tag in der Woche hatte ich frei. Wir haben nur manchmal syrische Nachbarn besucht, kamen aber mit den Türken nicht in Kontakt. Ich habe auch nicht versucht, die Sprache zu lernen. Mein Türkisch war sehr schlecht, es reichte, um sich auf der Arbeit einigermaßen zu verständigen. Und auf der Arbeitsstelle stand ich immer nur vor einer Maschine.

Lag die Schwierigkeit nicht auch darin, dass du die Türkei als Zwischenstation wahrgenommen hast?

Ja, das wird‘s sein. Am Anfang dachte ich, dass ich entweder die Türkei verlassen möchte oder wieder in das Land zurückkehren kann. Ich dachte ständig, morgen wird sich die Situation bessern. Keiner konnte ahnen, dass es mehr als sieben oder acht Jahre dauert. Keiner konnte ahnen, dass die Situation diese Ausmaße annimmt. Ich habe das Land in dem Glauben verlassen, dass ich nur für einen bestimmten Zeitraum in der Türkei bleibe. Aber als die Situation in Syrien schwerer wurde und die Arbeit in der Türkei kompliziert, haben sich meine Gedanken mit der Grenzöffnung geändert. Dann habe ich mich entschieden zu gehen.

»Verstehe ich die Menschen, verstehen sie mich?« Ahmad

Warst du schon bei deiner Ankunft in den Niederlanden entschlossen, hier zu bleiben?

Bei der Ankunft noch nicht. Man kommt in ein fremdes Land und weiß nicht, was man genau möchte. Verstehe ich die Menschen, verstehen sie mich? Es ist schwer zu wissen, ob man hierbleibt oder zurückkehren wird. Das braucht Zeit und stellt sich erst spät heraus. Erst muss man für einige Zeit in dem Land leben, bis man sich entscheiden kann.

Was waren deine ersten Gedanken bei der Ankunft?

Ich dachte, ich würde nur einige Zeit hierbleiben und dann wieder zurückkehren. Jetzt aber baue ich mir mein Leben hier auf. Ich lerne und arbeite. Ich brauche das Land. Ich verstehe die Menschen, und sie verstehen mich. Das Problem zwischen uns, die Sprache, ist jetzt gelöst. Jetzt frage ich mich: Wieso sollte ich zurückkehren? Dann fange ich wieder von vorne an. Ich muss mir dann wieder eine Arbeit suchen. Das Haus meiner Familie in Syrien ist komplett zerstört. Ich müsste das Haus wiederaufbauen, und außerdem: Wenn der jetzige Herrscher an der Macht bleibt, werde ich vielleicht zur Armee eingezogen, oder man wird mir Dinge anlasten: Dass ich geflohen bin. Es gibt keinen guten Grund zurückzukehren. Und du weißt nicht wofür. Wegen des Hauses? Zerstört. Wegen der Familie? Tot oder nicht mehr da. Freunde? Nicht mehr da. Meine Verwandten? Sie sind gestorben. Es gibt keinen guten Grund zurückzukehren.

Aber es das Land, in dem du aufgewachsen bist und einen Großteil deines Lebens verbracht hast…

Ja. Diese Diskussion habe ich auch mit meinen Freunden. Es ist unser Vaterland. Ich sage dann meinen Freunden: „Du bist frei, mein Bruder. Wenn du zurückkehren willst, dann kehre zurück, aber ich habe die Hoffnung aufgegeben.“ Eine Rückkehr ist schwer. Alles ist dann neu. Und alles ist weg. Alles ist weg. Meine Freunde sind weg. Das Haus ist weg. Ich habe nichts mehr dort. Und ich muss von vorne anfangen. Hier baue ich mir meine Zukunft auf. Wenn ich zurückkehren möchte, muss ich alles wiederholen.

Das Leben ändert sich ständig. Jeder Lebensabschnitt bedeutet Umstellung und Neuorientierung.

Das stimmt wohl. Aber es gibt keinen guten Grund, alles zurückzuspulen und von vorne anzufangen. Es dauert vielleicht 50 Jahre, bis alles wiederaufgebaut ist. Wieso sollte ich da etwas aufbauen? Damit es wieder zerstört wird? Das ist der Punkt, warum ich nicht wieder zurückkehren möchte. Und wenn die jetzige Regierung bestehen bleibt, dann erst recht nicht. Auch wenn sie wechselt, wissen wir nicht, was folgt. In Libyen ist es nicht gut ausgegangen, und in Ägypten auch nicht. In Syrien hält das schon über acht Jahre an. Der Machtinhaber hat dafür gesorgt, dass die Menschen fliehen. Wer soll zurückkehren?

Yohanan Khodr
23qm² – 380 Wohneinheiten
Über das Ankommen
Semesterarbeit

Hochschule Düsseldorf
Fachbereich Design
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